Die Kirchenmaus und die Bienenwachskerze

Es war einmal eine arme Kirchenmaus, die lebte in einer großen, schönen, aber kalten Kirche. Leider gab es hier nur wenig zu fressen. Deshalb fiel es der kleinen Maus sofort auf, als eines Tages in der Adventszeit ein süßer Honigduft durch die Kirche zog.

„Hm“, schnupperte das Mäuschen. „Woher kommt dieser wundervolle Duft?“ Und es folgte seiner Nase. Nicht lange, da stand die Kirchenmaus vor einer Bienenwachskerze, die zwischen Tannenzweigen aufgestellt war. „Oh riechst du gut“, sagte das Mäuschen. „Und wie ich erst leuchte“ erwiderte die Bienenwachskerze. „Das würde ich gerne einmal sehen“ sprach das Mäuschen. „Ich bin immer nur in der Kirche, wenn keine Lichter mehr brennen.“

So beschloss die Kerze, dass sie einmal ganz alleine für die kleine Maus leuchten wolle. Und tatsächlich, eines Abends, nach dem Gottesdienst, behielt die Kerze heimlich einen Funken Glut in ihrem Docht als sie nicht richtig ausgeblasen wurde. Als niemand mehr nach ihr sah, fing sie, durch einen Luftzug entfacht, einfach wieder an zu brennen.
Als die arme Kirchenmaus sie so in der großen, dunklen Kirche sah, konnte sie zunächst keinen Ton herausbringen. Noch nie hatte das kleine Mäuschen die große Kirche so gesehen. Die kleine Kerzenflamme verwandelte die die Dunkelheit der Kirche in ein wunderbares Spiel aus Licht und Schatten.

„Oh ist das schön“ piepste das Mäuschen und lief zur Bienenwachskerze hin. In deren Nähe war es ganz hell und die arme Kirchenmaus fühlte sich dort bei der Kerze ganz wohlig warm, wie sonst nur im Sommer auf einem Stein in der Sonne. „Danke“, flüsterte das Mäuschen der Kerze zu. „Danke! So schön war es noch nie, hier in meiner Kirche.“ Da lächelte die Bienenwachskerze. Und fast hatte es den Anschein, als würde sie beim Lächeln kleiner.

Lange, lange Zeit saß die Maus bei der Kerze. Warm war es dort, hell und schön. Die arme Kirchenmaus genoss die Nacht. Ihr war, als würde sie im Licht und dem Duft der Kerze baden. Doch plötzlich erschrak das Mäuschen.
„Du bist ja ganz klein geworden“ piepste es die Kerze an. „Merkst du das erst jetzt?“ erwiderte die Kerze mit leiser Stimme. „Komm, ich will dir ein Geheimnis verraten“, flüsterte sie und das Mäuschen spitzte die Ohren. Die Bienenwachskerze begann zu erzählen:

„Mäuschen, Glück ist brennen und vergehen, verstehst du das?“ Das Mäuschen schüttelte den Kopf. „Nun, das was wir miteinander erlebt haben, das ging nur, weil ich mich nicht gefürchtet habe kleiner zu werden. Hätte ich eine große, schöne, duftende Bienenwachskerze bleiben wollen, hätte ich nie das Glück in deinen kleinen dunklen Mäuseaugen sehen können. Nie hätte ich deine Freude miterlebt, wenn ich den Funken nicht im Docht hätte glimmen lasen und für dich gebrannt hätte. Ohne mein Leuchten wäre die Kirche jetzt dunkel und kalt und nicht warm und erhellt.“ „Das verstehe ich“, sagte die Kirchenmaus. „Weil du brennst und kleiner wirst, ist es für mich schön und ich bin froh. Du verschenkst dich mit Licht und Wärme an mich.“

„Das hast du schön gesagt“ erwiderte die kleine Bienenwachskerze. „Ja, ich verschenke mich an dich, damit du glücklich bist.“ Mit immer großen Augen schaute das Mäuschen die immer kleiner werdende Kerze an. „Glück ist brennen und vergehen“ murmelte es.

Die Bienenwachskerze nickte und strahlte noch einmal besonders hell. Ihr Licht fiel auf den gekreuzigten Jesus, der aus Holz geschnitzt am Altarkreuz hing. Fast war es der Kirchenmaus so, als hätte er gelächelt. Auch später ging es der kleinen Maus noch oft so, dass sie in stillen Augenblicken diesen Jesus anschaute, wenn ihr die Bienenwachskerze in den Sinn kam und ihr der Satz einfiel: „Glück ist brennen und vergehen!“

Autor: Michael Pfeiffer (Veröffentlicht 1987 in Ausgabe 52 der Zeitschrift „Der Jugendfreund“)
Veröffentlichung mit (nachträglicher) Zustimmung des Autors vom 8.1.2021.